Die Website ist ein Archiv für unser Projekt Das Brotbaum·regime.
Ein Archiv ist eine Sammlung.
Wir haben hier Informationen über das Projekt gesammelt.Und Informationen zu unserer Ausstellung.
Außerdem gibt es viele Informationen zu den Themen Wald und Kultur.
Vorwort
Liebe Besuchende,
danke, dass ihr der Ausstellung und dem Programm Das Brotbaumregime eure Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Ich heiße euch zum Spazierengehen im Projekt willkommen.
Seit zweieinhalb Jahren arbeite ich daran. Auch wenn die Verantwortung für das Projekt und seine Inhalte bei mir liegt, sind nach und nach viele Mitstreitende dazu gekommen. Sie haben mit mir gefragt, geforscht, gedacht und gemacht. Ihr werdet ihnen bei eurem Besuch begegnen: in ausgestellten Dingen, Texten, Interviews, bei Veranstaltungen und Rundgängen. Dieses gemeinsame „Wir“ spricht an vielen Stellen des Projekts – ebenso wie das „Wir“ der menschlichen Gesellschaft.
Vor einigen Jahren verschwand plötzlich der hohe, dunkelgrüne Fichtenwald, der für mich immer ein besonderes Zuhause gewesen ist. So etwas wie diese riesige, aufgewühlte Kahlfläche hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie bewusst wahrgenommen. Wald war bis dahin etwas für mich, das viel beständiger ist als ich, mein Umkreis, die Gesellschaft. Ich wollte verstehen, was passiert, aber das konnte ich nicht alleine. In Gesprächen wurde schnell klar, dass es anderen auch so ging wie mir. Dass viele tief betroffen sind: von den Brachflächen, von den übrig gebliebenen Gruppen stummer, grauer Fichtenständer, von der Dürre und von der Erfahrung der Klimakatastrophe am eigenen Leib. Wie können wir eine so radikale Veränderung überhaupt begreifen?
Meine Antwort darauf ist dieses Projekt. Es ist eine Einladung dazu, die drastischen Verluste in unserer Mitwelt zusammen zu verarbeiten. Meine Hoffnung ist, dass wir uns dadurch vielleicht ein Stück weit für eine Zukunft unter den ungewissen Bedingungen der Klimakrise in all ihrer Ambiguität bereit machen können. Das halte ich angesichts der schieren Größe und Komplexität dieser Herausforderung nicht nur für eine ökologische oder ökonomische Notwendigkeit, sondern auch für eine gesamtgesellschaftliche, kulturelle Aufgabe.
Zum Titel „Das Brotbaumregime“
Forstwirtschaft, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, war ein zielgerichtetes Regiment verwaltungsökonomischer Maßnahmen, um Waldflächen in großem Maßstab für den Holzertrag produktiv und planbar zu machen, sodass sie bei stetiger Nutzung immer weiter Holz liefern würden. Der Begriff „nachhaltig“ stammt aus diesem Kontext. Forstwirtschaftliche Praxis etablierte sich als Standard. Im Sauerland steht die Fichte für diese neue, hoheitliche Umgangsform mit Waldflächen.
Zuerst wurde der Baum von der Bevölkerung abgelehnt – sie stand für Fremdes und innere Kolonisation, denn mit der Forstwirtschaft wurden von den hessischen und später von den preußischen Besatzern auch traditionelle Lebensformen der Menschen vor Ort stark eingeschränkt. Waldflächen sollten vor der menschlichen Übernutzung geschützt und ausgelaugte Böden mit der anspruchslosen Baumart wieder für Laubwälder bereit gemacht werden.
Doch dann bewährte sich die Fichte auf ungeahnte Weise. Nicht nur, weil sie schnell wuchs und stabiles Bauholz bot, sondern auch, weil sich durch den intensivierten unterirdischen Kohleabbau der Holzmarkt grundlegend änderte. Stein- und Braunkohle machten die aus Buchen gewonnene Holzkohle größtenteils überflüssig. Für den Bergbau und später auch für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war Fichtenholz besonders gefragt. Fichten auf einer Waldfläche zu besitzen, wurde zu einer finanziellen Absicherung und Vermögensanlage für kommunale, kirchliche und private Eigentümer: der Rohstoff, der das Brot sicherstellte. Man nannte ihn den „Brotbaum“.
In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich die forstliche Praxis weiter entwickelt und immer auch an der gesellschaftlichen Nachfrage orientiert, aber was aktuell passiert, ist die größte Veränderung dieser Praxis, seitdem sie entwickelt wurde. „Regime“ steht in unserem Titel für diesen langwährenden Standard, der die Erscheinung und Industrie unserer Region so tiefgreifend geprägt hat und zu dem für eine Weile kaum Alternativen denkbar waren. Unser Projekt widmet sich den kulturellen Fragen dieser Geschichte und der Bedeutung des derzeitigen Wendepunkts. Es gedenkt der jüngeren Waldgeschichte der Region, bevor es in eine Zukunft bisher ungekannter Herausforderungen blickt, die unser grundlegendes Umdenken erfordern.
Debatte
An der überaus heiß geführten Debatte um die Zukunft der Forstwirtschaft wollen wir uns beteiligen. Anstatt einen eigenen Standpunkt einzunehmen, können wir als fachfremdes Kulturprojekt eine vermittelnde Rolle darin einnehmen. Das Brotbaumregime kann als Forum dienen und die vielen verschiedenen Positionen selbst sprechen lassen. Für mich als Laiin bleibt der Diskurs auch nach langer Recherche voller Widersprüche und verhärteter Fronten. Ich glaube aber, dass Austausch, Perspektivwechsel und gegenseitige Unterstützung für eine lebenswerte Zukunft hilfreich und notwendig sind. Dafür sehe ich eine Grundlage bei allen Akteur*innen: Die tiefe emotionale Beziehung zum Wald verbindet uns alle.
Für mich persönlich nehme ich eine recht schwere Erkenntnis aus den Vorbereitungen mit. Es wird im Forstbereich viel über die Sorge gesprochen, dass Waldökosysteme mit der Geschwindigkeit der Veränderungen in der Klimakatastrophe nicht mithalten könnten. Aber mir scheint, das eigentliche Problem liegt darin, dass unsere menschliche Gesellschaft es nicht schafft, sich schnell genug zu verändern, um die Ausbeutung des Planeten zu beenden und die Katastrophe durch eine strukturelle Transformation abzuwenden. Ich glaube, statt technische Lösungen in der Produktion unseres derzeitigen Lebensstils zu suchen, müssen wir uns selbst verändern. Unser Waldprojekt dreht sich deshalb viel mehr um Menschen, als um den Wald.
Zusammenhang
Was gerade passiert, ist sehr komplex. Allein das Thema „regionaler Wald“ hat unwahrscheinlich viele Facetten. Unser Projekt kann seine Fragen nur aspekthaft beleuchten. Was ihr daraus macht, überlassen wir euch. Wir konzentrieren uns darauf, die Situation in ihre Zusammenhänge aufzufächern und Komplexität zuzulassen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass einiges dabei verkürzt wird. Was wir vermitteln, entspricht dem Stand unserer Recherchen und ist unbedingt korrigierbar und ergänzbar. Wir hoffen, dass ihr daran anknüpft, wo es für euch spannend wird. Besonders zur Regionalgeschichte gibt es hervorragende Aufarbeitungen in Stadtarchiven, Jahrbüchern und bei Ortsheimatpflegenden.
Um die Gegenwart genauer zu verstehen, zieht das Projekt Verbindungen zwischen dem lokalen Hier und Jetzt und anderen Orten und Zeiten. Wir erforschen Wald-Erzählungen, die vor langer Zeit entstanden sind. Sie prägen unser Handeln bis heute und sind oft fast unsichtbar. Dem an die Seite stellen wir Visionen für Alternativen, damit wir anfangen können, uns eine andere Welt vorzustellen. Erst, wenn wir uns etwas vorstellen können, können wir auch danach handeln.
Zum Design
Die Designerinnen Bárbara Acevedo Strange, Bruno Jacoby und Moritz Appich haben die visuelle Erscheinung des Projekts gestaltet. In der Erzählung ihrer Gestaltung treten wir noch einen Schritt zurück – hin zu dem, was vor dem Denken in Brotbäumen steht: Brot ist in unseren Augen das ultimative Kulturgut. Es ernährt uns und hat eine Vielzahl von Zutaten, Formen und Geschichten. Brot war eine unserer ersten Technologien. Man könnte vielleicht sagen, dass Brot vieles anderes erst möglich macht. Wenn wir über Brot nachdenken, verbinden wir uns gleichzeitig mit unseren allerältesten menschlichen Vorgängerinnen und öffnen uns für eine hoffnungsvolle Zukunft.
Die grafischen Zeichen des Projekts sind Wanderzeichen nachempfunden. Aus dem Umriss eines Brotlaibs entstehen auch alle anderen Zeichen: Kommen wir dem Brot besonders nah, wird es zum Horizont. Entfernen wir uns, wird es eine Krümelspur. Seine Krustenränder setzen sich zu anderen Wesen zusammen, die uns dabei helfen, das Brotbaumregime zu erzählen. Genau wie das Brot begleiten sie uns auch in Form von Gegenständen zum Anfassen in den Ausstellungsteilen und bei Veranstaltungen:
Auf den alten Wanderstock können wir uns vielleicht nicht mehr richtig stützen, aber er soll uns trotzdem als Reisegefährte Geborgenheit schenken.
Wie mahnende Ahnengeister schauen die Fichten von oben dabei zu, was wir jetzt mit ihrem Gedenken tun. Wir sind ihre Wurzeln in der Region. Setzen wir uns ihr Erbe in all seiner Konsequenz auf.
Der Mistkäfer nimmt uns mit, während er die Kacke von heute sammelt und zusammenrollt. Etwas daran ist noch zu gebrauchen. Als Geschichtenerzähler verwandelt der Mistkäfer sie zu nahrhaftem Kompost, auf dem etwas Neues wachsen kann.
Hoffnung
Die Aufgaben, vor denen wir gesellschaftlich stehen, erscheinen unfassbar groß. Aber wir müssen auf einem sinnvollen Weg anfangen. Das geht nur bei uns selbst. Eine andere Wahl haben wir nicht, wenn wir eine lebenswerte Zukunft wollen. Sinnvoll auf die Klimakrise zu reagieren, erfordert ein Umdenken auf allen Ebenen. Es liegt an uns, durchzuarbeiten, was uns vom Handeln abhält, und widerstandsfähig, hoffnungsvoll und imaginativ zu werden, um positive Veränderungen zu verstehen und zu unterstützen.
Letztlich ist Das Brotbaumregime selbst ein Experiment auf diesem Weg: Was passiert, wenn wir uns gegenseitig Fragen stellen, um einander besser zu verstehen? Was passiert, wenn wir miteinander teilen, was uns wehtut und wofür wir dankbar sind? Was passiert, wenn wir uns gegenseitig ermutigen? Was passiert, wenn wir unsere Ängste anerkennen und Verluste benennen? Was passiert, wenn wir Rituale finden, um darum zu trauern? Was passiert, wenn wir aus der Geschichte lernen, warum das gerade geschieht?
Theresa
14. Mai 2023, in der alten Gartenhütte neben dem undichten Regenfass, Niedereimer