Die Website ist ein Archiv für unser Projekt Das Brotbaum·regime.
Ein Archiv ist eine Sammlung.
Wir haben hier Informationen über das Projekt gesammelt.Und Informationen zu unserer Ausstellung.
Außerdem gibt es viele Informationen zu den Themen Wald und Kultur.
Der Mutterbaum
Die Ältesten erfüllen in allen Gemeinschaften eine besondere Rolle: Mit ihrer Lebenserfahrung, ihrem Wissen und ihren Lehren erlangen sie die Achtung ihrer Leute. Sie helfen dabei, Individuen in den größeren Zusammenhang der Gemeinschaft einzubinden, und schaffen eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht alle Individuen höheren Alters gehören jedoch zu den Ältesten, und nicht alle Ältesten sind notwendigerweise alt. In meiner Familie nahmen meistens Großmütter und Großväter die Rollen der Ältesten ein, aber bestimmte Menschen wie meine Töchter werden mit einer Weisheit geboren, die nicht erst mit dem Alter kommt, und sind imstande, Generationen zu verbinden.
Diese Weisheit hat ihren Ursprung in den vielen Leben der vorangegangenen Generationen. In meiner lebenslangen Arbeit im Wald habe ich gelernt, dass die Ältesten vieler Spezies – einschließlich der Menschen, auch im Wald Verbindungen herstellen. Sie sorgen für ein anpassungsfähiges genetisches Grundgerüst für Veränderung und Resilienz in der gesamten Gemeinschaft. Die grundlegende Spezies des Waldes sind die Bäume; und die größten und betagtesten Bäume bilden die Ältesten dieser Grundlage. Die Baumältesten dienen für vielzählige, unterschiedlich große Bäume in ihrer Nachbarschaft als Anker. Diese Ältesten sind nicht nur Lebensraum für zahlreiche pflanzliche, tierische, Pilz- und mikrobielle Lebewesen des Waldes, sondern auch für die Menschen, deren Kulturen und Lebensgrundlagen vom Wald abhängig sind.
Die Douglasienältesten meiner Heimatwälder im kanadischen British Columbia gehen Symbiosen mit tausenden Arten von Mykorrhizapilzen unter der Erde ein, so wie Baumarten es auf der ganzen Welt tun. Die ersten Arbuskulären Mykorrhizapilze wurden in ungefähr 400 Millionen Jahre alten Fossilien entdeckt und es gilt gemeinhin, dass sie die Übersiedlung von Meerespflanzen an Land ermöglicht haben. Diese symbiotischen Mykorrhizapilze sammeln begrenzt zugängliche Nährstoffe und Wasser aus dem Boden und tauschen sie gegen Kohlenstoff aus der Photosynthese der Bäume ein. Einige Pilze in heutigen Wäldern sind späte Nachkommen ausgewachsener Wälder, andere sind frühe, mit jüngeren Wäldern assoziierte Nachfahren. Aber sie alle helfen dabei, einzelne Bäume miteinander in Verbindung zu bringen. Eine einzige Douglasienälteste, zum Beispiel, kann durch die schiere Größe ihres ausgedehnten Wurzelsystems und diverser Pilzgemeinschaften mit hunderten anderen Bäumen der gleichen oder anderer Spezies verbunden sein. Diese unterirdischen Verbindungen formen ein Mykorrhiza-Netzwerk, das umgangssprachlich auch das „Wood Wide Web“ genannt wird, da es neuronalen Netzwerken, Flusssystemen und dem Internet ähnelt. Im Wood Wide Web können Bäume als Knotenpunkte des Netzwerks gesehen werden, während Pilze als Verbindungsglieder agieren
Das Wood Wide Web ist ein geschäftiges Netzwerk, in dem die Pilzverbindungen als Transportbahnen für Kohlenstoff, Wasser und Nährstoffe zwischen den Bäumen dienen. Innerhalb der wechselhaften Dynamik wachsender Bäume können die höheren, mit Sonnenlicht und Nährstoffen gut versorgten Baumältesten überschüssige Ressourcen über die sogenannte Sink-Source Interaktion an kürzere, beschattete Bäume im Unterholz weiterleiten. Je mehr Ressourcen der „Source“-Baum (engl. Quelle) hat und je bedürftiger der „Sink“-Baum (engl. Senke) ist, desto größer ist der Ressourcen-Nettotransfer an Letzteren. In einigen Wäldern tauschen Bäume auch Verteidigungssignale aus, um einander vor potentiellen Gefahren zu warnen, und stärken so die Resilienz der ganzen Gemeinschaft. Einige Bäume leiten Allelochemikalien oder Gifte durch das Netzwerk, wenn die benachbarte Baumart unerwünscht ist. Baumälteste haben die Fähigkeit, Nachbarn auszumachen, die ihnen genetisch verwandt sind oder die zur Gemeinschaft gehören, und sie können anderen Bäumen mehr oder weniger Ressourcen übermitteln, um sie je nach Umständen zu bevorteilen oder zu benachteiligen
Mutterbäume, speziell die uralten Zedern und Fichten der Pazifischen Westküste Nordamerikas, können über ihr gigantisches Wurzelsystem Nährstoffe durch den ganzen Wald transportieren und so das gesamte Ökosystem ernähren. In meinem Labor erforschen Dr. Teresa Ryan von der Tsimshian First Nation, Doktorandin Allen Larocque und ich diese Prozesse. Momentan nehmen wir an, dass es so abläuft: An der Pazifischen Westküste von British Columbia wird Lachs, der von Ureinwohner*innen an Mündungen mariner Laich-Flüsse in Fischfallen gefangen wird, von Wölfen und Grizzlies gefressen. Die Raubtiere transportieren ihren Fang an sichere, warme und trockene Flussbänke unter Mutterbäumen, die an den Flussufern im Wald wachsen. Dort in Sicherheit, fressen die Bären die Innereien. Die Überreste verwesen und ihre Nährstoffe sickern in die Wurzeln der Bäume hinab. Der im Lachs enthaltene Stickstoff wird von Mykorrhiza-Netzwerken aufgenommen und dient den Mutterbäumen als Dünger, die – wie wir es auffassen – den Lachsstickstoff dann durch ihre Pilzverbindungen von Baum zu Baum zu Baum tief in den Wald hinein weitergeben.
Die Bäume setzten den Stickstoff um, der ihrem Wachstum zuträglich ist und der (wie man an den Baumringen sehen kann) in ihrem Gewebe über Jahrhunderte hinweg gespeichert wird. Der Lachsstickstoff im Gewebe der Bäume fördert die Gesundheit und Produktivität des Waldes. Im Gegenzug spenden die üppigen Wälder den Flüssen der Lachse Schatten und nähren sie, indem sie die Wassertemperatur regulieren und während der Ebbe durch Versickerung Nährstoffe übertragen. So wird eine positive Rückkopplungsschleife erzeugt, die förderlich für die Gesundheit und Produktivität der Fische ist. Die Teile der Bäume, die den Stickstoff der Lachse enthalten (Rinde und Wurzeln), werden von den Völkern der First Nations der Nordwestküste (darunter die Tsimshian und die Nuu-chah-nulth) gesammelt, um daraus Kleidung, Kunst und Werkzeug herzustellen – inklusive der Werkzeuge, die beim Lachsfang eingesetzt werden. Baumälteste oder Mutterbäume spielen eine entscheidende Rolle beim Schließen dieses Kreislaufs. Das Wohlergehen des Waldes ist demnach abhängig vom Wohlergehen der Lachse, die wiederum zurück in die Flüsse, die Ozeane und zu den Menschen zirkulieren. Das Fortbestehen dieses Kreislaufs basiert auf einer Beziehung, die First Nations als Wechselseitigkeit bezeichnen: einem Austausch mit gegenseitigem Respekt. Mutterbäume sind für diesen Kreislauf unabdingbar, aber der Prozess ist auch ein wichtiges Beispiel dafür, wie Menschen dauerhaft in das komplexe adaptive System eines Waldes eingebettet sein können.
Seit Mitte der 1850er Jahre haben europäische Kolonisatoren riesige Schneisen nordamerikanischer Wälder gefällt. Zuerst aus Angst vor dem dunklen Wald, dann, um den Weg für die Landwirtschaft freizumachen, und danach für den Ertrag als Bauholz. Das Ausmaß von Veränderung dieser Wälder durch Europäer steht im scharfen Kontrast zu den Eingriffen durch indigene Völker, die Bäume fällen, um das Ökosystem zu stärken, Handelswege freizuhalten und gegen Eindringlinge zu schützen. Üblicherweise soll das Zurückschneiden von Bäumen ihre lokale Lebengrundlagen in und mit dem Wald unterstützen. Auf diese Weise wurden die abwechslungsreichen nordamerikanischen Wälder von indigenen Völkern nach ihren Bedürfnissen geformt. Als europäische Siedler ankamen, um Nordamerika zu kolonisieren, wurden dagegen Wälder für Siedlungsbau und Landwirtschaft vollständig ausradiert – wobei besonders die Baumältesten anvisiert wurden. Schließlich wurden forstwirtschaftliche Praktiken aus Deutschland übernommen, wo die Forstverwaltungswissenschaft zur Sicherung der Bestandsregeneration innerhalb der lokalen Umwelt perfektioniert worden war und darauf abzielte, dortigen gesellschaftlichen Zwängen gerecht zu werden
Aber uns stehen Wege zur Verfügung, um dieser Situation zu begegnen.
Ich schlage hier vier wichtige mögliche Wege zur Wiederherstellung und Wiedergutmachung vor. Erstens müssen heutige Konsumgesellschaften anerkennen, dass sie in Beziehung mit Natur stehen. Viele indigene Nationen Nordamerikas agieren seit Tausenden von Jahren erfolgreich als schützende Wärter der Wälder, Flüsse und Lachse; ihre Praktiken achten das Eingebundensein in die Natur und fußen auf Respekt und Wechselseitigkeit. Neue wissenschaftliche Studien beginnen allmählich anzuerkennen, dass diese lange ignorierten Verknüpfungen nicht nur existieren, sondern für das Wohl von Menschen und Wäldern ausschlaggebend sind. Es ist deshalb von höchster Wichtigkeit, dass wir das moderne wissenschaftliche Bild von Natur als Ressource grundlegend transformieren. Zweitens müssen wir Menschen unsere Beziehungen innerhalb dieses Netzes pflegen, besonders in Zeiten, in denen Belastungen durch den Klimawandel zunehmen. Das kann durch den Erhalt der Biodiversität erreicht werden, nicht nur im Hinblick auf diverse Spezies, sondern auch auf Strukturen und Funktionen. Drittens muss dieser Erhalt die Ältesten anerkennen. Das bedeutet, dafür zu kämpfen, dass die Ältesten lebendig und sicher sind, damit ihre Gene und ihre Weisheit an kommende Generationen weitergegeben werden können. Schließlich müssen Menschen Diversität respektieren. Nur durch unsere Differenzen – seien es soziale, botanische oder genetische – können Produktivität, Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Resilienz gefördert und erhalten werden. Auch durch ihre Diversität wird sich Mutter Erde an moderne menschengemachte Krisen anpassen und helfen, sie zu regulieren.
Kevin Beiler et al. 2009. „Architecture of the Wood-Wide Web: Rhizopogon spp. Genets Link Multiple Douglas-Fir Cohorts“ in New Phytologist 185(2): 543–53.
Brian J. Pickles et al. 2017. „Transfer of 13C Between Paired Douglas-Fir Seedlings Reveals Plant Kinship Effects and Uptake of Exudates by Ectomycorrhizas“ in New Phytologist 214(1): 400–411.
Bemerkung der Herausgeberin der Erstveröffentlichung in Intercalations 4 (2017), Anna-Sophie Springer: Für eine kritische Betrachtung der deutschen Forstwissenschaften, siehe James C. Scott. 1998. Seeing Like a State: How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven: Yale University Press: 11–52.
Mit Visualisierungen von Kevin Beiler, übersetzt von Luzie Meyer